Sonntag, 3. April 2011

Von der „damnatio memoriae“ und spontanem kollektiven Vergessen

Teil 2 der Lesenotiz zu "Die große Zukunft des Buches"

U. E.: Erst im universalen Kommunikations-Netzwerk, das unsere globale Gesellschaft darstellt, konnten Salman Rushdie und seine Satanischen Verse überleben.

J.-C. C.: Selbst die raffinierten Zensurverfahren der Chinesen sind nicht so perfekt, dass Oppositionelle nicht Wege finden könnten, sie zu überwinden, wie zum Beispiel mit Handyfilmen, die um die ganze Welt verschickt werden können.
Was ist aber eine Zensur durch Subtraktion gegenüber einer Zensur durch Addition, die typisch für die Medien von heute ist?

U.E.: „Sagen wir, ich bin ein Staatsmann und weiß, dass am nächsten Tag eine für mich äußerst peinliche Nachricht erscheinen wird, die in sämtliche Schlagzeilen kommen könnte, dann lasse ich in der Nacht am Hauptbahnhof eine Bombe hochgehen. Am nächsten Tag werden die Zeitungen ihre Schlagzeile geändert haben.“ (199)

Was ist die „damnatio memoriae“ und wie geschieht sie heute?

U.E.: Die damnatio memoriae wurde vom römischen Senat verhängt und bestand darin, jemanden nach seinem Tod zum Vergessen zu verurteilen, z.B., indem man seinen Namen aus öffentlichen Urkunden strich, die ihn darstellenden Statuen verschwinden ließ oder den Tag seiner Geburt zum Unglückstag erklärte. Im Stalinismus geschah dasselbe, wenn ein früherer, ins Exil verbannter oder ermordeter Führer von den Fotos getilgt wurde.

Heute ist das alles schwieriger, denn im Internet finden sich frei zugänglich immer auch ältere Fotos – das Verschwundene würde nicht lange verschwunden bleiben.

J.-C. C.: Heute kommt es zu „spontanem“ kollektivem Vergessen, das nicht in einer Abstimmung beschlossen wird, sondern unbewusst geschieht. Eine durch das Internet totale und endgültige Zensur ist im Zeitalter des Internet praktisch unvorstellbar.

Die Gefahr dabei ist, dass sich frei zirkulierende Informationen nicht mehr überprüfen lässt, da das Vergleichen so viele Zeugenaussagen erfordert, dass deren Versammlung Mühen bereitet, die man letztlich doch scheut.

U.E. Hier ist einzuwenden, dass eine Fülle von Zeugenaussagen nicht immer ausreicht, sondern zuweilen, wie im Falle der Bilderfluten über das gewaltvolle Vorgehen Chinas gegenüber den tibetischen Mönchen, zur Abstumpfung des Fernseh- und Internetpublikums führt. Dies sind die „Blasen“, die durch Nachrichtenfülle entstehen.

Jean-Philippe Tonnac: Das Beispiel der zerstörten Buddhastatuen in Afghanisan kann verdeutlichen, dass der Mensch oder das Werk, das aus vielerlei Gründen, etwa Bränden, Zensur, mutwilliger Zerstörung, Datenverlust etc., zum Stillschweigen verdammt ist, zu einer Art Resonanzraum werden und auf diese Weise doch noch seinen Platz in unserem Gedächtnis einnehmen kann.

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