Dienstag, 28. Dezember 2010

Zurück ins digitale Mittelalter?


Teil 2 des fiktiven Interviews mit Vilém Flusser:

vizLaboratory: Herr Flusser, ist unsere Welt mit ihren technisch produzierten Bildern eine oberflächliche?

Vilém Flusser: Oberflächen, Wände, Schirme aus Papier, Plastik, Aluminium, Glas, Webstoff usw. sind wichtige „Medien“ geworden. Die Farben – rot für „Stopp“, grün für „Geh‘“ – programmieren uns, sind bedeutungsvoll. Sie sind ein Aspekt der kodifizierten Welt, in der wir leben. Es gab schon Zeiten, in denen Oberflächen und ihre Botschaften eine kleinere Rolle spielten als heute: Linien, in Form von Buchstaben und Zahlen, die zu Reihen geworden waren, herrschten vor.

Der Fakt, dass die Menschheit von Oberflächen – oder Bildern – programmiert wird, ist überhaupt nicht neu oder gar revolutionär. Vielmehr kehren wir dadurch zum Urzustand zurück. Denn vor der Erfindung der Schrift waren Bilder entscheidende Kommunikationsmittel. Doch denken Sie an die Fresken, Mosaiken, Tapeten und Kirchenfenster, die auch nach Erfindung  der Schrift als Oberflächencodes eine wichtige Rolle spielten.

Erst nach der Erfindung des Buchdrucks begann das Alphabet tatsächlich vorzuherrschen. In diesem Sinn kann unsere Lage als Rückkehr ins Mittelalter gedeutet werden, ein retour avant la lettre.

vizLaboratory: Existierten seit Erfindung von Schrift nicht Bilder und Text nebeneinander? Enthalten Texte, die wir als Leser in unserem Kopf zu Bildern formen, nicht ebenfalls Bilder – Sprachbilder?

Vilém Flusser: Ja, es besteht aber ein wesentlicher Unterschied zwischen den Bildern, die uns heute programmieren und jenen von vor der Erfindung des Buchdrucks. Der Unterschied zwischen ihnen besteht zum einen darin, dass vormoderne Bilder Produkte des Handwerks sind – Kunstwerke. Nachmoderne Bilder sind Produkte der Technik.

Wichtiger noch – und geradezu revolutionär – ist folgender Unterschied: Der vormoderne Mensch lebte in einer Bilderwelt, welche die „Welt“ bedeutete. Wir heute leben in einer Bilderwelt, welche Theorien bezüglich der „Welt“ zu bedeuten versucht.

Um diesen Unterschied genauer zu erfassen, muss ich ausholen und den Begriff „Code“ erklären. Ein Code ist ein System aus Symbolen. Denken Sie zum Beispiel an die aus Steinen und Bärenknochen gebauten Kreise, die die Skelette von Menschenaffen umgeben, die vor 2 Millionen Jahren ausstarben. Die Kreise sind Codes, die Knochen und Steine sind Symbole. In ihnen steckt eine sinngebende Absicht.

Ein Code ermöglicht Kommunikation zwischen den Menschen. Wie Symbole auch, ersetzt Kommunikation etwas anderes – sie bedeutet. Kommunikation ersetzt das Erlebnis des von ihr „Gemeinten“.

Der Mensch hat den unmittelbaren Kontakt mit der Bedeutung der Symbole verloren. – Insofern ist der Mensch ein „verfremdetes“ Tier. – Deshalb muss er Symbole schaffen und sie in Codes ordnen, um die Kluft zwischen sich selbst und der „Welt“ zu überbrücken. Das heisst, er versucht mit Hilfe des Codes zu „vermitteln“ und gibt so der „Welt“ eine Bedeutung.

Der Menschenaffe, der mit Kreisen als Codes, Knochen und Steinen als Symbolen hantiert, war ein Mensch, denn er war „verfremdet“ genug, der Welt eine Bedeutung geben zu müssen. Wir haben zwar den Schlüssel zu diesen Codes verloren, denn wir wissen nicht, was die Kreise bedeuten. Wir wissen aber, dass es sich hier um Codes handelt, denn wir erkennen die sinngebende Absicht.

Ein weiteres Beispiel sind die Höhlenmalereien von Lascaux. Die damaligen Zeichner nutzten Codes, die wir heute immer noch benutzen. Daher sind sie für uns entschlüsselbar.

Die Jagdszenen von Lascaux bedeuten „Welt“. Die Sachlage der Menschen von damals, auch die erwünschten Sachlagen, zum Beispiel zukünftige Jagd, wurde hier in zweidimensionale Codes, in Szenen, übertragen. Dieser szenische Charakter der zweidimensionalen Codes hat eine spezifische Lebensweise der von ihnen programmierten Gesellschaften zur Folge. Das ist etwas, was ich die „magische Daseinsform“ nenne.

Wieso? Nun ja. Überlegen wir uns, wie wir Bilder wahrnehmen. Ein Bild und seine Bedeutung kann auf einen Blick erfasst werden. Doch nach dem erfassenden Blick wandert das Auge analysierend im Bild, um seine Bedeutung tatsächlich zu empfangen. Menschen, die durch Bilder programmiert sind, nehmen das Fließen von Zeit in der Welt so wahr, wie die Augen, die im Bild wandern: Die Szenen, die sich in der Welt abspielen, werden durch Zeit zu einem Kreislauf geordnet, wie sie sich verhalten sollen: eine Wiederkehr von Tag und Nacht und Tag, Saat und Ernte und Saat, Geburt und Tod und Wiedergeburt. „Welt“ bestand für unsere Vorfahren in einer Menge von Szenen, die magisches Verhalten fordern.

Und dann? Dann kam es zum Umbruch: Die Schrift wurde erfunden. Dies war revolutionär – und zwar nicht, weil neue Symbole erfunden wurden, sondern, weil das Bild nun in Zeichen aufgerollt wurde. Die Zeichen und die aus ihnen zusammengesetzte Zeile „erklärt“ die Szene, indem sie jedes einzelne Symbol klar und deutlich auf-zählt – eine Er-zählung entsteht.

Texte sind eine Entwicklung von Bildern und ihre Symbole bedeuten nicht unmittelbar Konkretes, sondern Bilder – Sie haben also recht. Will man Texte entschlüsseln („lesen“), muss das Auge der Zeile entlang gleiten. Erst am Ende der Zeile hat man die Botschaft empfangen und muss versuchen, sie zusammenzufassen. Texte fordern also fortwährendes und fortschreitendes Empfangen. Das hat eine neue Zeiterfahrung zur Folge. –

Die einer linearen Zeit, eines Stroms des unwiderruflichen Fortschritts, der dramatischen Unwiederholbarkeit. So entstehen die Geschichten, entsteht Geschichte, die als unumkehrbar, fortschreitend und dramatisch erfasst wird.

vizLaboratory: Und was bedeutet das für unsere von Bildern beherrschte Welt?

Vilém Flusser: Tja, in dem Maße, in dem Oberflächencodes überwiegen, in dem Bilder alphabetische Texte ersetzen, hört die Zeiterfahrung auf, die mit den Kategorien der Geschichte erfasst wird. Die kodifizierte Welt, in der wir leben, bedeutet nicht mehr Prozesse, ein Werden, sie erzählt keine Geschichten, und leben in ihr bedeutet nicht handeln.

Dass sie das nicht mehr bedeutet, nennt man die „Krise der Werte“. Denn wir sind ja noch immer weitgehend von Texten programmiert – also für Geschichte, für Wissenschaft, für „Kunst“. Wir „lesen“ die Welt, zum Beispiel logisch und mathematisch. Aber die neue Generation, welche von Techno-Bildern programmiert wird, teilt nicht unsere „Werte“. Und wir wissen noch nicht, für welche Bedeutung die Techno-Bilder, die uns umgeben, programmieren.

Die Techno-Codes sind ein Schritt weg von den Texten, sie erlauben es, sich von Begriffen Bilder zu machen. Denken Sie an die Kamera, die nicht ohne Texte – zum Beispiel chemische Formeln – existieren kann oder an den Fotografen, der zuerst imaginiert (Image), dann begreift (Begriff) und zum Schluss mit Hilfe der Technik „techno-imaginiert“.

Mit diesem Schritt zurück aus den Texten ins Techno-Bild ist ein neuer Grad von Verfremdung erreicht worden – der „Glaube an Texte“ hatte den früheren „Glauben an Bilder“ abgelöst. Durch die Techno-Imagination geht der „Glaube an Texte“ verloren, weil die Texte, wie einst die Bilder, als „Vermittlungen“ erkannt werden.

Diese Lesenotiz in Form eines fiktiven Interviews basiert auf Paraphrasen und Zitaten aus dem 1978 erschienenen Aufsatz Flussers „Die kodifzierte Welt“, der 2008 im Band Medienkultur (Fischer Taschenbuch), herausgegeben von Stefan Bollmann, neu abgedruckt wurde.

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