Freitag, 17. Dezember 2010

Vom Subjekt zum Projekt

Der Mensch existiert im Entwurf. Das tut er jedoch nicht aus einem Überschuss an Energie und Phantasie, sondern weil ihm von Anfang an nichts anderes übrigblieb. – In „Vom Subjekt zum Projekt“ thematisiert Vilém Flusser, „Medienphilosoph“, Kommunikationswissenschaftler und Kunstkritiker, einen neuen Subjektbegriff. 

Es folgt Teil 1 der Lesenotiz in Form eines fiktiven Interviews mit dem 1991 verstorbenen Vilém Flusser.

vizLaboratory: Guten Tag, Herr Flusser. Ihr Leben ist bestimmt, von einer Reihe von Neu-Entwürfen: Sie wurden 1920 in Prag geboren, im August 1940 flohen Sie mit viel Glück von Southampton nach Rio de Janeiro. In Brasilien schrieben Sie nachts fieberhaft philoso-phische Essays, während Sie tagsüber als Geschäftsmann für den Unterhalt ihrer Familie sorgten. Nach Veröffentlichung Ihrer philosophischen Schriften wurden Sie Dozent an mehreren Universitäten, ohne einen Hochschulabschluss vorweisen zu können. Was dazu beitrug, dass das akademische Establishment Sie nicht akzeptierte.  
Was unterscheidet das Subjekt vom Projekt?

Vilém Flusser: Ja, ich hatte großes Glück, überhaupt nach Brasilien fliehen zu können. Wäre mein Schwiegervater Gustav Barth, der mich nach England geschleust hat, nicht gewesen, wäre ich, da ich kein englisches Visum besaß, von den Niederlanden aus nach Prag zurückgeschickt worden. Es wäre mir dann genauso ergangen wie meiner Schwester, meinen Eltern und Großeltern, die verschleppt und umgebracht wurden. 

1940 kam ich in Brasilien an und fühlte mich verstoßen und so überflüssig, wie Strandgut. Alles schien mir sinnlos zu sein. Hinzukam, dass ich mich nicht als Geschäftsmann verstand und diese Handelsmentalität auch nie annehmen konnte - ich war dafür geistig einfach unfähig und entsprechend erfolglos. 

Als ich von meinem Cousin David, der in Jerusalem die Geschichte des Christentums erforschte, einen Brief bekam, kam mir das vor, als hätte jemand eine Bresche in die Kerkerzelle geschlagen, in der ich seit Jahren in Einzelhaft gesessen hatte. Ich wollte schreiben und veröffentlichen! Doch am Anfang wollte niemand mein Geschreibsel lesen!

Anfang der 1960er Jahre war es dann soweit. Die Revista Brasileira de Filosofia hat einen Aufsatz von mir veröffentlicht und ich bekam einen Job beim Estado de Sao Paulo. Dann kam mein Buch Lingua e Realidade heraus und ich wurde Universitätsdozent für Kommunikationsphilosophie.

Tja, was ist der Unterschied zwischen Subjekt und Projekt? Als Subjekt bin ich ein unterwürfiger Unterwerfer. Als Projekt ein Entwerfer, der vorausdenkt, was zu einem  aufrechten Leben gehört und wie er es realisieren kann.

vizLaboratory: Das klingt sehr zeitgemäß und optimistisch!

Vilém Flusser: Sicher. Heutzutage entwerfen wir uns pausenlos immer wieder völlig neu, wir hetzen von Entwurf zu Entwurf und vergessen dabei den Prozess des Werdens im Handeln, in den Geschichten. Ich bin in diesen Dingen kein Optimist, denn wir leben in einer Massenkultur und mit einer Generation, die von Techno-Bildern programmiert wird. Wir wissen nicht, welche Bedeutung diese Bilder haben werden. Unsere Kultur, die auf Texten basiert, fürchte ich, wird bald untergehen.

Dieses fiktive Interview basiert auf Stefan Bollmanns Vorwort zu dem 2008 im Fischer-Verlag erschienenen Buch "Vilém Flusser - Medienkultur". Kommentare von Kenner/innen des Buches "Vom Subjekt zum Projekt" und anderen sind herzlich willkommen!

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